Das Lymphgefäßsystem
Blut-, Lymphkreislauf
Jeder von uns kennt den Blutkreislauf und weiß so ungefähr, wozu er dient. Doch nur die wenigsten Menschen wissen, dass wir noch ein weiteres Gefäßsystem besitzen, das Lymphgefäßsystem. Dieses beginnt im Gewebe zwischen den Blutgefäßen und den Zellen, das „Zwischenzellraum“ (Interstitium) oder auch „weiches Bindegewebe“ genannt wird. In schier unendlich verzweigten Verästelungen durchzieht das Lymphgefäßsystem fast unseren ganzen Körper und mündet schließlich kurz vor dem Herzen in den Blutkreislauf.
Unser Herz pumpt über Schlagadern (Arterien) Blut in fast alle Teile unseres Körpers. Auf dem Weg dorthin verzweigen sich die Arterien und werden immer feiner. Aus den feinsten von ihnen, den Kapillaren (Haargefäße), wird Blutserum (der flüssige Anteil des Blutes) in den Zwischenzellraum „filtriert“ (siehe Abbildung). Die Flüssigkeit versorgt die Zellen mit Sauerstoff, Nährstoffen, Elektrolyten (gelöste Substanzen, vor allem Salze), Vitaminen, Spurenelementen, Hormonen, Enzymen, anderen Stoffen und ggf. auch mit Medikamenten.
Das bei der Atmung der Zellen entstehende Kohlendioxid sowie kleinmolekülige Stoffwechselprodukte diffundieren aus den Zellen in die Gewebsflüssigkeit und durch die Wände der Blutkapillaren hindurch in den Blutkreislauf.
Dagegen können großmolekülige Abfallprodukte des Zellstoffwechsels, Eiweiß- und Fettmoleküle, lebende und tote Zellen, Zelltrümmer, Fremdstoffe (z.B. Farbpigmenten von Tätowierungen, weshalb diese mit der Zeit ausbleichen), Bakterien, Viren, ggf. auch Tumorzellen und Gewebswasser nicht von den Blutkapillaren aufgenommen werden. Diese Substanzen bilden zusammen die „lymphpflichtige Last“, die nur über das Lymphgefäßsystem aus dem Gewebe entfernt werden kann.
Früher hatte man angenommen (und in vielen Lehrbüchern steht immer noch), dass rund 90 Prozent dieser Flüssigkeit wieder von den Blutkapillaren aufgenommen (reabsorbiert) werden, die restlichen 10 Prozent im Zwischenzellraum liegen bleiben. Inzwischen wurde jedoch nachgewiesen, dass die Blutkapillaren nur eine sehr geringe Flüssigkeitsmenge reabsorbieren. Der Grund dafür ist, dass wenn Flüssigkeit aus dem Gewebe ins Blut aufgenommen wird, die Eiweiß-Konzentration im Gewebe ansteigt und dadurch Wasser aus dem Blut wieder „abgesaugt“ wird.
Folglich wird fast die gesamte Gewebsflüssigkeit über die Lymphgefäße abtransportiert. Im Ruhezustand sind das pro Tag durchschnittlich 5 bis 10 Liter. Bei körperlicher Anstrengung, Hitze, nach Alkoholkonsum oder aufgrund mancher Medikamente (Psychopharmaka!) steigt die Menge an. Sie kann bei schweren Erkrankungen sogar bis zu 50 Liter betragen!
In unserem Körper fließt also mindestens doppelt bis dreimal so viel Lymphflüssigkeit wie Blut! Etwa die Hälfte davon, die „Primärlymphe“, wird von den Lymphknoten über deren Venen in den Blutkreislauf eingeleitet, die andere Hälfte, die „Sekundärlymphe“, fließt hinter den Schlüsselbeinen (im linken und rechten „Venenwinkel“) in den Blutkreislauf ein.
Den Eingang des Lymphgefäßsystems bilden die „Lymphkapillaren“, auch „initiale Lymphgefäße“ genannt. Sie sind mikroskopisch fein und formen ein engmaschiges Netz im weichen Bindegewebe (siehe Abbildung). Über einen höchst komplexen Mechanismus, an dem das ganze umliegende Gewebe beteiligt ist, saugen die Lymphkapillaren die lymphpflichtige Last auf. Darum wurde das Lymphgefäßsystem früher oft auch als „Saugadersystem“ bezeichnet. Ab dem Moment, in dem die lymphpflichtige Last vom Lymphgefäßsystem aufgenommen wurde, heißt sie „Lymphe“ (lat. lympha = klares Wasser, Quellwasser). Sie ist durchsichtig, leicht gelblich, nur die Lymphe aus dem Darmbereich färbt sich, wenn wir etwas Fetthaltiges verzehrt haben, milchig-trüb.
Am Transport der Lymphe sind viele Faktoren beteiligt. Einer der wichtigsten ist die „Muskelpumpe“. Wenn wir uns bewegen, üben die Muskeln im Rhythmus der Bewegung wechselnde Drücke auf die Lymphgefäße aus. Entlang der Lymphbahnen sitzen viele Ventilklappen, ähnlich denen, wie wir sie von den Venen, insbesondere von den Beinvenen her kennen. Diese Klappen lassen die Lymphe nur in eine Richtung fließen. Das Zusammenwirken der wechselnden Muskeldrücke und den Klappen bewirkt einen sehr wirksamen Lymphtransport.
Ebenso bedeutend für den Transport der Lymphe – besonders bei körperlicher Ruhe – sind die Lymphangione (siehe Abbildung). Diese „Lymph-Herzchen“ werden vom vegetativen Nervensystem gesteuert und sie tragen eingangsseitig und ausgangsseitig die soeben erwähnten Ventilklappen. Im Ruhezustand „schlagen“ die Lymphangione etwa 2 bis 5 Mal pro Minute, bei starker körperlicher Belastung kann die Frequenz bis auf 30 pro Minute ansteigen. Dann wird tüchtig Lymphe in Bewegung gesetzt! Aber auch das Pulsieren der Arterien, die auf vielen Strecken mit Lymphgefäßen parallel zu Bündeln zusammengepackt sind, und die Atmung mit ihrem Wechsel von Unter- und Überdruck im Brustkorb, unterstützen den Lymphfluss ebenso wie die Bewegung des Darmes (Peristaltik).
Die „Eingangsseite" des Lymphgefäßsystems
Lymphknoten
Auf ihrem Weg zu den Venenwinkeln passiert die Lymphe etwa 600 Lymphknoten, die wir in unserem Körper haben (bewegen Sie den Mauszeiger auf die anatomische Darstellung links). Diese sind 5-20 mm groß, oval bis bohnenförmig und sind – außer im zentralen Nervensystem – überall im Körper verteilt. Starke Häufungen finden sich seitlich an Kopf und Hals, im Bereich der Achseln und der Leiste sowie entlang des Magen-Darm-Traktes. Oftmals werden sie „Lymphdrüsen“ genannt. Doch diese Bezeichnung ist falsch, denn Drüsen sind Organe, die Substanzen bilden und absondern, Lymphknoten tun das nicht.
In den Lymphknoten fließt die Lymphe etwa hundertmal langsamer als in den Lymphbahnen. Dadurch kann sie bei körperlicher Ruhe bis zu 20 Minuten in einem Lymphknoten verweilen. Das ist sehr wichtig, denn die Lymphknoten sind „Kläranlagen“ und je länger die Lymphe darin verweilt, desto gründlicher wird sie gereinigt. Allerdings funktioniert das nicht bei allen Schadstoffen. So sammeln sich etwa Teer vom Rauchen, Tätowiertinte und andere Umweltgifte im Lauf der Zeit in den Lymphknoten ab und beeinträchtigen deren Funktion. Infolge dessen wird die körpereigene Immunabwehr geschwächt.
Die Lymphknoten fungieren auch als „Polizeischulen“ unseres Körpers. In ihnen werden bei Infektionen unter dem Einfluss von Antigenen bestimmte Abwehrzellen (Lymphozyten) auf die Bekämpfung von „Übeltätern“ (Bakterien, Viren etc.) ausgebildet (spezialisiert). Die spezialisierten Abwehrzellen vermehren sich dabei sehr stark, was zu einer vorübergehenden Schwellung des Lymphknotens führen kann. Anschließend schwärmen sie im ganzen Körper aus, um die jeweilige Infektion zu bekämpfen. Das Lymphgefäßsystem ist also ein ganz wesentlicher Teil unseres Immunsystems, ohne den wir nicht lebensfähig wären. Auch Tiere – abgesehen von sehr primitiven Spezies – besitzen ein mehr oder minder komplexes Lymphgefäßsystem.